BASIC LINES
Dietmar Wehr zeichnet mit einem feinen Tuschestift auf Blättern großen Formats. Rein aus der Linie entwickelt er die völlig gegenstandsfreien Gebilde, die ihre Logik allein aus dem Verlauf der Linie beziehen, welche Dietmar Wehr mit ruhiger Hand und außerordentlicher Akribie auf’s Papier bringt, ohne sich dabei je zu korrigieren. Haltlos und doch scharf konturiert im Zentrum des völlig weiß belassen Bildgrundes schwebend, entwickeln die Linienstrukturen eine frappierende Körperlichkeit. Wehr setzt dafür Linie an Linie, die weite Strecken parallel zueinander verlaufen, aber sich auch voneinander abwenden, neue Richtungen einschlagen, aufeinander zuführen, an manchen Stellen enden, um organisch anmutende Formationen zu bilden. Es entstehen helle und dunkle Schraffuren, kleinteilige Strukturen und lang ausgreifende, filigrane Passagen, wodurch der dezidiert räumliche Eindruck entsteht.
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Der Künstler geht dabei rein intuitiv vor; er hat kein Vorbild, das er abzeichnet, und bringt auch kein gedankliches Konstrukt zu Papier, das er zuvor entworfen hätte. Am ehesten ergibt sich dabei eine Nähe zur Methode der „Écriture automatique,“ dem automatischen Schreiben der Surrealisten, wobei der Intellekt zugunsten des Unbewussten so weit wie möglich ausgeschaltet werden soll. Von einer persönlichen Handschrift wird dabei weitgehend abgesehen – so auch in den Zeichnungen von Dietmar Wehr, die mitnichten Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen sollen. Vielmehr ergibt sich eine Linie aus der nächsten, die Linien erwachsen auseinander, verwachsen miteinander, so dass sich der Eindruck ständiger Bewegung ergibt. So wie die Kartoffeln, die Dietmar Wehr in seiner Werkreihe „Gemeinsam alt werden“ fotografisch porträtiert hat, zunächst völlig unkontrolliert vor sich hin geschrumpelt sind und Triebe gebildet haben, so scheinen auch seine Zeichnungen ohne lenkenden Eingriff des Künstlers ganz aus sich selbst heraus zu wachsen. Die Linien sind in dieser Hinsicht wie die Jahresringe eines Baumes gleichsam die Spur der Zeit, die der Künstler braucht, um ein Blatt zu füllen.
Obwohl die Gebilde durch die klaren Linienkonturen eigentlich abgeschlossen sind – es gibt nirgendwo einzelne Linien, die unvermittelt aus der geschlossenen Struktur herausragen und auf Weiterführung warten – ergibt sich doch der Eindruck, dass es sich um höchst versatile Gestalten handelt, die sich unentwegt verändern und im nächsten Augenblick ganz anders aussehen könnten. Bedingt durch die häufig wechselnden Richtungen und die unterschiedliche Länge der Linienbündel scheinen die filigranen Strukturen zu flattern oder zu schweben, so dass sich unmittelbar Assoziationen an Organisches ergibt – an Pflanzenteile, seltsames Meeresgetier oder menschliches Gewebe. Dabei ist festzuhalten, dass diese Assoziationen nicht von vornherein vom Künstler intendiert sind, sondern sich erst im Nachhinein und auch nur als Nebeneffekt ergeben. So sind die einzelnen Blätter alle ohne Titel – was in Klammern dahinter steht, dient hauptsächlich der Unterscheidung der einzelnen Arbeiten und zeugt nebenbei zuweilen vom Sprachwitz des Künstlers.
Die Klarheit der Linienführung steht dabei im starken Kontrast zu der vermeintlichen Beweglichkeit der fantastisch anmutenden Gebilde. Es ist das Zeichenmittel der Architekten und technischen Zeichner, das Dietmar Wehr für seine Arbeiten verwendet. Auch der Zeichenuntergrund ist nicht ganz unwichtig. Hat Wehr zunächst naturweißes Papier verwendet, das den organischen Charakter seiner Zeichnungen betont und den Zauber alter Kupferstiche besitzt, ist er in letzter Zeit auf schneeweißes Papier umgestiegen, das die Zeichnungen noch klarer und kühler erscheinen lässt. Für mich ergibt sich hierbei auch eine Nähe zu computergenerierten Graphiken, denen ein Algorithmus zugrunde liegt, der auf dem Vorbild der Natur beruht. Hier simuliert die Handzeichnung die Computergraphik, die dem Natürlichen nachempfunden ist. Dietmar Wehr findet so im weitesten Sinne Bilder für unsere Zeit, dem Anthropozän – jenem Zeitalter, in der Natur und Technik, Körper und Maschine längst nicht mehr trennungsscharf und voneinander unabhängig agieren, sondern die Grenzen zwischen beiden Sphären fließend sind und der Mensch der Natur sein Antlitz aufgedrückt hat.
Susanne Buckesfeld
Kunstmuseum Ahlen
CYGNE E MOUSTIQUE
MUMMEN
ÖHRCHEN
O.T.[B3]
o.T._[FEED]
o.T._[PFLÖCKCHEN]
O.T.[GEFÄLLE 1]
O.T.[GEFÄLLE 2]
O.T.[TÄNZCHEN]
O.T.[MARODEUR]
O.T.[OPI]
O.T.[50IES-SCRAP]
O.T.[SCHABERNACK]
O.T.[OTTO]
O.T.[TUMMLER]
O.T. [WANDERER]
O.T.[HERZ]
O.T.[BOCK]
O.T.[PFLANZE]
O.T.[HUND]
O.T.[FÜHLER]
O.T.[FLOSSE]
O.T.[BAUM]
O.T.[AUGE]