Die Entdeckung des giftigen Acrylamids in Brotrinden, markierte vor über zehn Jahren Dietmar Wehrs Beginn einer langen Beschäftigung mit dem Werkstoff Brot in Form zahlreicher Skulpturen und Fotografien seiner Werkgruppe „WELT“.

Heute Abend überraschte uns der Künstler mit einem Ausschnitt aus seiner audiovisuellen Arbeit „TEIG MASCHINENBROT“. Das mehrere Sequenzen umfassende Video betont atmosphärische und auratische Aspekte einer sehr ortsgebundenen, äußerst dynamischen Schöpfungsgeschichte. Die aus der Konnexität Maschine – Teig resultierende frappante Synthese aus in Wellen frenetisch mal rumpelnden, mal hechelnden Maschinengeräuschen und den in jedem Augenblick mal zuckenden, mal fließenden Bewegungen einer grauen Masse, scheint zwischen Apokalyptik und Apotheose angesiedelt zu sein: Der Teig geht! Will oder soll er ein Laib, ein Brotlaib werden?

„Gemeinsam alt werden“ lautet der Titel einer Gruppe fotografischer Bilder von recht unterschiedlichen, seltsamen Wesen, die ich der Einfachheit halber mal – nach ihrem Entdecker – Wehrwesen nenne. Es gibt sicher mehrere Gründe dafür, warum wir bei Begegnungen mit Wesen, die nicht unserem Ebenbild entsprechen, seien sie nun von anthropomorpher oder zoomorpher Gestalt, mit Angst, mindestens aber mit besonders gesteigerter Aufmerksamkeit reagieren.

Doch diese beunruhigende Auge-in-Auge-Kontrollpraxis hat uns Dietmar Wehr schon während seiner intensiven Naturbeobachtungen abgenommen.  So dass wir nun, besonders angesichts ihrer lebensnahen Porträts uns weder vor Fressfeinden noch vor Futterkonkurrenten fürchten müssen; im Gegenteil, wie uns der Künstler glaubhaft vermittelte, hätten diese Wesen allen Grund, sich vor uns zu ängstigen. Seine persönliche Kenntnis der Porträtierten und seine empathische Sicht sind wichtigste Voraussetzung für die überzeugende Subtilität ihrer Porträts, die nicht nur Dermatologen in großes Staunen versetzen; entbehren sie doch nicht einer ebenso malerischen wie schätzenswerten Ästhetik des Alterns.

Frösche wollen üblicherweise wachgeküsst werden, während die Wehrwesen dem Künstler auf gar keinen Fall auf die Nerven gehen, indem sie etwa kontrollieren wollen, ob sie „gut getroffen“ wurden. Denn das sind sie, selbstredend. Die meisten, mit Ausnahme weniger, in der Metaphysik schwebender Magritte-Typen, sitzen oder stehen einfach und ökonomisch wohlgesetzt und diszipliniert im ansonsten freien, farbigen oder weißen Umfeld. Manche von ihnen scheinen Gefühle zu haben und Stimmungen zu verbreiten, während andere sich perfekter Maskeraden bedienen und Mimikry betreiben. Wieder Andere stellen einen zeitgemäß schicken Haarschmuck zur Schau. Vereinzelte gekrönte Wehrwesen machen durch atavistisches Gehabe auf sich aufmerksam, während die Gesichter mancher Kopffüßler knarzernst in der Selbstverständlichkeit ihres Soseins erscheinen. Die Gesichtszüge derer, die an trockene Fangopackungen erinnern, haben offenbar Familiensinn und liebäugeln verschmitzt in sich hinein oder zum nächsten Familienmitglied. Nur einige Wenige schauen so introvertiert drein, als ob sie sich auf eine Implosion vorbereiten. Eine Wehrwesen-Gruppe, obwohl beinlos, scheint den paradoxen Versuch zu unternehmen, einen Totentanz einzuüben.

Der Porträtist der Wehrwesen verfügt zwar inzwischen über Kenntnisse ihrer Lebensweise, kann jedoch noch keine Angaben über etwaige Religionszugehörigkeiten machen. Auf der Roten Liste erscheinen sie jedenfalls noch nicht. Gleichwohl ist ihre Gefährdung durch starke Klimaschwankungen nicht ausgeschlossen. Es ist zu hoffen, dass sie „Gemeinsam (sehr, sehr) alt werden“ um jedem aufmerksamen Betrachter noch recht lange sinnliches, wie auch intellektuelles Vergnügen zu bereiten.

Klaus Küster  (Text zur Ausstellung März 2015)